Erwin Max Sauermann

Erwin Max Sauermann war mein Vater. Nur dass ich 35 Jahre meines Lebens nicht wusste, dass dies sein Name war.
Auf seinem Grabstein steht der Name Werner Pech. In seinen Ausweisen steht als vollständiger Name Werner Erwin Max Pech.
Geboren wurde er am 02.11.1930 in Glogau/Schlesien. Gestorben ist er am 28.07.1970 in Bremen.

Damit ihn Max zu rufen, konnte man ihn ärgern. Das fand er nicht lustig.
Alle gingen davon aus, dass er diesen Namen einfach nicht mag. Dazu gesagt hat er nie etwas.
Dabei hätte er etwas zu erzählen gehabt.
Max ist der Name seines eigenen Vaters. Meines Großvaters. Max wurde schon 1939 zur Wehrmacht einberufen. Er fiel 1942 an der Ostfront, am Don.
Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt knapp 12 Jahre alt. Er war der älteste von vier Brüdern - und von diesem Zeitpunkt an "der Mann im Haus".


Erwin als Junge, ca. 1935/36. Ort unbekannt.

1945 wurde Glogau ebenso wie Breslau zur Festung erklärt. Die letzte Front an der Oder sollte die die Rote Armee auf ihrem Weg der Befreiung des Deutschen Reiches aufhalten.
Geglaubt haben das - wenn überhaupt - wohl nur noch die letzten Nazi-Schergen.
Viel eher dürfte allen klar gewesen sein, dass damit zwei nahezu ungeschützte Städte und eine ganze Landschaft dem Untergang geweiht waren.
Mein Vater hatte Glück. Vielleicht. Es ist schwer zu sagen, ob das was dann kam, als Glück zu bezeichnen ist.
Die Zivilbevölkerung der Region wurde in bitterkalten Nächten des Winters evakuiert. Oder besser: Sie musste fliehen vor dem Krieg.
Alle Jungen ab dem Alter von 15 Jahren mussten in der Stadt bleiben; wurden zwangsverpflichtet zur Verteidigung.
Mein Vater war erst 14 Jahre alt. Er ging mit dem Treck auf die Flucht Richtung Westen. Mit aller Verantwortung als ältester der Brüder.
Ob er lieber geblieben wäre, ob er ein begeisterter Hitlerjunge war oder ob die Schicksal seines eigenen Vaters ihn früh gelehrt hatte, davon Abstand zu nehmen, darüber weiß ich nichts.

Die Familie landete zunächst im heutigen Landkreis Frankenberg in Sachsen. Dort blieb sie eine Weile bevor sie weiterzog nach Bayern.
Mein Vater blieb länger als seine Mutter und die Brüder. Aus dieser Zeit ist ein Brief von ihm erhalten an seine Mutter. Der einzige Brief überhaupt.
In diesem auf den 22. Januar 1946 datierten Brief kann er genau aufschlüsseln, welche der Familien aus Noßwitz/Urstetten (noch) in Dittersbach und Mühlbach lebten.
Offensichtlich hatte er dort bereits als Lehrling eine Anstellung gefunden. Folgte dann aber der Mutter und den Brüdern doch noch nach Bayern.

Das neue Zuhause der Familie war Nabburg/Donau.
Der Älteste wurde dann im August 1947 ein paar Kilometer weiter nach Bodenwöhr geschickt. Dort begann er eine Lehre als Bäcker. Oder setzte sie fort. Das ist unklar. Es muss eine unglückliche Zeit gewesen sein.
Im November 1947 zu seinem 17. Geburtstag wollte die Familie ihn besuchen. Aber er war nicht da. Wohin er gegangen war und warum, das wusste niemand.
Mutter und Brüder standen allein mit dem Geburtstagskuchen auf dem Bahnsteig.

Anfang 1948 wurde gut 100 Kilometer weiter im Landkreis Wunsiedel ein junger Flüchtling auf einem Hof vorstellig. Er stellte sich mit dem Namen Werner Pech, geboren am 02.11.1930 in Glogau vor. Er sei ohne Familie. Der Bauer nahm ihn auf. Arbeitskräfte wurden dringend gesucht und junge Flüchtlinge aus dem Osten ohne Familie und ohne Papiere gab es genug. Die Behörden waren froh, wenn die minderjähringen Flüchtlinge sich selber versorgen konnten. Der Bauer meldete den jungen Mann auf der Meldestelle an. Dieser bekam eine Arbeitskennkarte. Ein gutes Jahr später wechselte er in einen Nachbarort zu einem anderen Bauern. Nun war auch die Meldeadresse verifiziert und weitere Dokumente konnten ausgestellt werden. Aus Erwin Max Sauermann war Werner Erwin Max Pech geworden.

1950, nur ein gutes weiteres Jahr später, folgte der nächste Schritt. Mit dem Fahrrad fuhr er nach Bremen in Norddeutschland. Der kleine us-amerikanischen Enklave oben im Norden in der seine Arbeitserlaubnis galt. Auch dort arbeitete er zunächst auf einem Bauernhof, bevor es ihn später in den Hafen führte. Dort wurde er Stauer, ob letztlich Vorarbeiter oder Tallymann, lässt sich nicht mehr nachvollziehen.

Werner Pech ca. 1950

Darüber, wie mein Vater meine Familie mütterlicherseits kennen gelernt hat, gibt nur unzulängliche Geschichten. Mein Großvater mütterlicherseits war Kommunist in Hemelingen bei Bremen. Er musste schon 1933 ins Gefängnis und wurde später - da als vorbestraft und Kommunist nicht "wehrtauglich" - in ein Strafbataillon ("500er/999er") einberufen, um nach den Bombenangriffen Menschen zu retten und Straßen zu räumen. Dies brachte ihm nach 1945 den Beruf eines verbeamteten Feuerwehrmanns ein. Daneben führte er mit seiner Frau aber einen kleinen Tante-Emma-Laden weiter. Und er machte sich zur Aufgabe, sich um all die Menschen zu kümmern, die ihm allein gelassen in den Wirren der Nachkriegszeit begegneten. Einer davon wurde mein Vater.

Die Familie meiner Mutter heißt mit Nachnamen Sauer. Als Kind habe ich oft darüber gelacht, dass Frau Sauer Herrn Pech geheiratet hat. Heute ist es eigentlich noch viel lustiger. Denn in Wahrheit hat Frau Sauer Herrn Sauermann geheiratet. Nur hat dieser ihr das nie erzählt. Dabei hätten sicher alle viel darüber lachen können.

Erzählt hat er ohnehin nicht viel. Über seine Familie wusste niemand etwas. Nur die Namen seiner Brüder waren bekannt. Dass sein Vater an der Front gefallen war. Und seine Brüder und die Mutter auf der Flucht umkamen. Doch selbst hier ist sich heute niemand mehr sicher, ob er es wirklich so gesagt hat. Oder ob es aus seinem Schweigen geschlossen wurde.

Stolz sei er gewesen. So hat es niemanden gewundert, dass er sich weigerte einen Antrag im Rahmen des Lastenausgleichgesetzes zu stellen. Obwohl ihm das seit den frühen 1950er Jahren möglich gewesen wäre. Er wollte seinen Weg alleine machen, ohne Almosen, ohne Unterstützung. Das wurde akzeptiert. Auch wenn die junge Familie, die er in der Zeit gründete, dies dringend benötigt hätte. Erst heute ist klar: Er konnte keinen Antrag stellen, ohne dass herausgekommen wäre, dass es einen Werner Pech aus Glogau nie gegeben hat.

Ende der 1950er Jahre haben meine Eltern geheiratet. 1959 wurde das erste Kind geboren. Mein Vater wollte es Norbert nennen - nach einem seiner Brüder. Niemand konnte ihm dies verwehren. Meine Mutter bekam das Recht, die Namen der Mädchen auszusuchen. 1961 wurde das zweite Kind, eine Tochter geboren.

Werner Pech mit seinen beiden älteren Kindern, Weihnachten 1961

Als Nachzügler wurde dann das dritte Kind 1970 geboren. Das war ich. Und erneut war es ein Junge. Mein Vater wählte wieder den Namen eines seiner Brüder.
Dass sein Bruder Detlef nur ein Jahr alt geworden war, davon erzählte er nichts.

Wenige Tage nach meiner Geburt nahm sich Werner Pech das Leben.

Seine Brüder und seine Mutter, die in weiterhin Bayern lebten, hat er seit 1947 nicht mehr gesehen. Erst 2005 konnte ich seinen beiden noch lebenden Brüdern von seiner Geschichte berichten.