Meine Geschichte

Irgendwann habe ich angefangen, wenn ich Freundinnen und Freunden von der Geschichte meiner Familie erzählte, einen Zwischenschritt einzubauen. Der läuft zumeist darauf hinaus zu sagen: "Nein, das war jetzt noch gar nicht das Ende. Und ich gebe zu, würde ich einen Spielfilm anschauen, wäre es mir irgendwann zu viel, einfach übertrieben. 'Unglaubwürdig" wäre noch die harmloseste Bezeichnung für eine solch überfrachtete, an den Haaren herbeigezogene Story."
"Unglaubwürdig" trifft es ganz gut. Denn manchmal kann ich es selber kaum glauben.

Ich war erst wenige Tage alt, als mein Vater sich das Leben nahm. Meine Mutter lag mit mir noch im Wochenbett im Krankenhaus.
Was ihn zu dieser Handlung führte, wird niemals geklärt werden können.
Die Angst an der Verantwortung für die eigenen Kinder zu scheitern? Die Angst, dass seine Geschichte, der erfundene Name doch noch herauskommt?
Im Laufe der Recherche gab es viele Überlegungen. Und manches bleibt mysteriös.

In den Ausweisen meines Vaters steht als "unveränderliches Kennzeichen": Narben an den Händen. Als er nach Bremen kam, war sein Kiefer noch durch Schrauben oder ähnliches zusammengehalten, die später entfernt wurden. Ein Kieferbruch. Woher all dies kam, weiß heute niemand mehr.
Die bayrischen Brüder berichteten, dass die großen Jungs nach der Flucht sich noch mehrfach über die Grenze zurückgeschlichen haben. Vielleicht zum Schmuggeln, vielleicht einfach nur, um zusehen, ob man nicht doch nach Hause zurückkehren könne.
Von den wenigen Geschichten, die mein Vater erzählte, blieb in Erinnerung, dass er genau von einem solchen Besuch im Heimatort berichtete. Dort habe er die toten, alten Nachbarn gefunden. Damals wurde nicht nachgefragt. Heute erinnert sich niemand mehr genau, was er berichtete. Und zum Nachfragen ist es längst zu spät.
Einer seiner Brüder erzählte auch davon, dass mein Vater zusammen mit einem Freund bei einer Grenzüberquerung gefangen genommen wurde und dieser Freund dabei ums Leben kam. Vielleicht war es so. Vielleicht stammten von dort seine Verletzungen. Vielleicht stammte von dort sein Verstummen.
Vielleicht war es aber auch einfach die Überforderung als nicht einmal Zwölfjähriger mitten im Krieg nach dem Tod des Vaters die - zumindest gefühlte - Verantwortung für die Brüder übernehmen zu müssen.

Letztlich produzierte sein Handeln nichts als eine Wiederholung. Zurück ließ er seine Frau mit drei Kindern. Sein ältester Sohn, mein großer Bruder, war zum Zeitpunkt seines Todes elf Jahre alt. Und mein Bruder hat mit der Verantwortung, der Enttäuschung und wohl auch der Wut auf seinen Vater sein ganzes Leben ebenso gerungen wie mit der Liebe zu ihm.

2001 bei meinem ersten Besuch in Glogau war ich dort mit meiner Schwester. Wir haben uns selten zuvor so viel Zeit genommen, um über unseren Vater zu sprechen. In diesen Tagen habe ich verstanden, warum es gerade ich war, der jüngste der Geschwister, der nie aufhören konnte, der immer wieder nach Spuren suchte. Meine Schwester erzählte vom Rasierwasser unseres Vaters, dessen Duft sie das ganze Leben begleitete und ebenso irritierte wie faszinierte, wenn sie ihn bei anderen Männern fand. Sie berichtete von seiner Stimme, die ihr vertraut im Ohr war und der Vorstellung, dass wir gerade an einem Ort seien, wo diese Stimme erklungen war.
Für mich war mein Vater eine schwarz-weiß Fotografie auf dem Wohnzimmerschrank. Das war das Konkreteste, was ich hatte. Ich hatte ihn nie gerochen. Ich hatte nie seine Stimme gehört. In den Tagen musste ich mir eingestehen, dass ich diese Lücke auch niemals füllen werde.

Dass mein Vater sich das Leben genommen hat, wurde uns Kindern nicht erzählt. Auf dem Totenschein stand "Herzversagen". Jeder Tod ist am Ende ein Herzversagen. Es war der Arzt, der die Familie schützen wollte. Dies erzählte er später, alt und betagt in einem Telefonat. Eine Frau, alleine mit drei Kindern, hat schon genug Probleme. Erst recht noch 1970, wo der Blick sich noch schnell dahin wenden konnte, dass dies nur passieren kann, wenn die Hausfrau und Mutter sich nicht ordentlich kümmert. Erst recht 1970, wo noch nicht sichergestellt war, dass auch Menschen, die über ihren Tod selber verfügen, ein würdevolles - oder gar ein kirchliches - Begräbnis erhalten.

Herausgefunden habe ich es selber. Keine Legende, so sehr Erwachsene sich bemühen, ist sicher vor Kindern. Es sind die Details, die Zweifel säen. Mit 15 stellte ich gemeinsam mit meinen Geschwistern unsere Großeltern zur Rede. Und diese berichteten uns von der ganzen Geschichte - war es doch auch der Vater meiner Mutter, der den erhängten Leichnam fand.
Mit meiner Mutter habe ich das erste Mal über den Suizid meines Vaters gesprochen als ich 34 Jahre alt war. Es war an dem Nachmittag an dem ich der versammelten Familie beim Weihnachtsessen davon berichtete, dass ich die Brüder meines Vaters gefunden habe. Und die Last, die von meiner Mutter an diesem Nachmittag abfiel, war größer als die Verwunderung über die lebenden Brüder meines Vaters. Weihnachten mit sehr besonderer Bescherung.

Die Begegnung mit den Brüdern meines Vaters gehört zu den wohl wichtigsten Momenten meines Lebens.
Und meine Dankbarkeit dafür gerade Waldemar nur wenige Wochen vor seinem Tod noch getroffen zu haben, ist lebendig in mir.
Doch Stimme und Geruch. Zuwendung und Begleitung. All das, wofür ein Vater stehen kann und stehen sollte. All das, bleibt eine Lücke.

 

Warum diese Geschichte?
Geschichte wird von Menschen gemacht. Und Geschichte macht Menschen.
Es gibt keine Persönlichkeit, die sich außerhalb ihrer geschichtlichen Bedingungen entwickeln kann.
Oder wie es der Soziologe Peter Alheit formuliert: Biografie trägt ein Janusgesicht - sie wird auferlegt und eigenproduziert.
Das Verhältnis beider zueinander zu klären, ist nicht immer leicht.